Vestische Zeitschrift

Das Hauptprojekt des Arbeitskreises vestischer Geschichts- und Heimatvereine e.V.

Wer sich heutzutage, d.h. zu Beginn des 21. Jahrhunderts, durch Recklinghausen und Umgebung bewegt, stößt in zahlreichen Zusammenhängen und bei vielen Ortsbelegenheiten immer noch und weiterhin auf die Bezeichnung Vest, vestisch. Nicht wenige Institutionen, Firmen, Vereine und juristische Personen (keineswegs nur Orts-, Geschichts- und Heimatvereine) führen diesen Begriff in ihrem Namen, ohne dass dadurch sogleich auch historische Sachverhalte angesprochen und tradiert werden. Noch in den frühen 1920er Jahren bildete bei der Formierung des Polizeipräsidialbezirkes Recklinghausen, der immerhin von Waltrop bis nach Bottrop reicht, das alte Vest expressis verbis die geografisch-territoriale Hintergrundfolie, nicht anders als bei der analogen Sprengelbildung anlässlich der Neugründung des Polizeipräsidiums im Jahre 1953. Die alteingesessenen regionalen Verkehrsbetriebe, die im frühen 20. Jahrhundert als „Vestische Straßenbahnen“ ihre Arbeit aufnahmen, respektieren bis heute in wesentlichen Abschnitten ihrer Streckenführung die alten Grenzen des kurkölnischen Nebenlandes: beispielsweise pendeln in direkter Verbindung Busse zwischen Recklinghausen und Buer, nicht aber zwischen Recklinghausen und den Stadtteilen Gelsenkirchens südlich der Emscher, deren ausgeprägte Bruchlandschaft doch über Jahrhunderte das Vest wirksam gegenüber dem Märkischen abschottete.

Höhepunkt dieser ungebrochenen territorialen Begriffskultur war zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Zusammenführung von Stadt- und Kreissparkasse Recklinghausen zur Sparkasse Vest (beide ursprünglichen Geldinstitute gehörten im übrigen zu den traditionellen Förderern der Vestischen Zeitschrift, die neue, gemeinsame Anstalt hat verzögerungslos diese dankenswerte Übung übernommen), wodurch die Imagination des alten Territoriums in regionaler Politik und Wirtschaft weiterhin große Präsenz aufweist. Ist auch der Bevölkerung die schwierige Bedeutung und Etymologie des Wortes Vest1 meist unbekannt, so findet im lokalen Sprachgebrauch die Vokabel selbst weiterhin vielfache Verwendung: das Stadt- und Vestische Archiv Recklinghausen als Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung mit der Regionalgeschichte wird gerne einfach ‚Vestisches Archiv’ genannt.

Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um aufzuzeigen, dass die Vestische Zeitschrift als das regionalwissenschaftliche Organ für die Emscher-Lippe-Region ihren unbestrittenen Sitz im Leben hat, dass ihre Titelei keine Worthülse und kein hohler Traditionalismus ist, sondern in den regionalen Grenzen, die zugleich das historisch-geografische Programm der Zeitschrift abstecken, alles andere als ein Fremdwort darstellt. Die bewusst aufrechterhaltene Unschärfe in der Korrelation zwischen Vest (bis 1803/11) und Kreis Recklinghausen (ab 1815/16) führt in praxi dazu, dass auch wissenschaftliche Beiträge über die kreisangehörigen Orte Haltern, (Dorsten-) Lembeck und Castrop-Rauxel, welche niemals zum alten Vest gehört hatten, ganz selbstverständlich Aufnahme in dieses Periodikum finden können – andererseits waren und sind Beiträge über die Geschichte Bottrops oder der alten Freiheit Buer, die doch von Anfang bis Ende kurkölnisch-vestisch waren, aber schon lange nicht mehr zum Kreis Recklinghausen gehören, ebenso willkommen.

Ein Nachdenken über Zielsetzung und Begrifflichkeit eines Publikationsorgans drängt sich natürlich gerade dann auf, wenn ein erwähnenswertes Jubiläum ansteht. Der im Jahre 2004 vorliegende hundertste Band dieser Zeitschrift lässt mit Fug und Recht von einem gelungenen Langzeitprojekt sprechen, das mittlerweile ganz selbstverständlich in die Reihe alteingesessener regionalgeschichtlicher Periodika gehört, ohne die in Deutschland landeshistorische Forschung in kleineren oder größeren Geschichtsräumen nicht denkbar ist: die „Lippischen Mitteilungen“, die das alte Fürstentum Lippe (-Detmold) und den heutigen Kreis Lippe publizistisch miteinander verbinden, scheinen ein interessantes und nicht minder erfolgreiches Gegenbeispiel in Nordrhein-Westfalen zu sein.

Schon anfänglich stellt sich eine gewisse Genugtuung darüber ein, dass der vergleichsweise kleinformatige räumliche Bezugsrahmen, m.a.W. die inhaltliche Engführung dieses Periodikums (man denke nur an die weit größeren ‚Sprengel’ der Westfälischen Zeitschrift oder der Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein) seiner Kontinuität und Konsistenz nicht im Wege stand, vielmehr bis in die Gegenwart die konzeptionelle Geschlossenheit der Zeitschrift fördert und unterstreicht. Gerade das Ruhrgebiet, längst schon zu einer komplexen Geschichtslandschaft sui generis geworden, braucht offenbar solche Projekte und Produkte. Nicht weniger bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass der sog. Vestische Kalender, der mit dem Jahre 1923 auf Betreiben des Landrates Dr. Erich Klausener als populärwissenschaftlicher Seitenverwandter der Vestischen Zeitschrift und als Heimat-Almanach für die hiesige Region auf den Plan trat, der Erfolgsgeschichte der Zeitschrift langfristig nichts ‚anhaben’ konnte; nicht erst heutzutage ergänzen sich beide Periodika auf geradezu ideale Weise.

Wie und wodurch begann es, als am Ende des Jahres 1891 der erste Band der „Zeitschrift der Vereine für Orts- und Heimatkunde im Veste und Kreise Recklinghausen“ vorlag? Grundlage allen Schaffens für die Vestische Zeitschrift war die Konstituierung eines Gesamtvereins aller vestischen Orts- und Heimatvereine, eines Dachverbandes für die immer zahlreicher werdenden Geschichtsvereine zwischen Emscher und Lippe. Dieser gab sich am 23. November 1890 eine Satzung, die neben den üblichen appellativen Passagen zur Sicherung, Sammlung und Erschließung schriftlicher Quellen und historischer Überreste der Heimatgeschichte auch die systematische Zusammenfassung und Veröffentlichung einschlägiger Entdeckungen, Erkenntnisse und Forschungsergebnisse in einem eigenen wissenschaftlichen Jahrbuch vorsah: Überall in Deutschland schossen bekanntlich am Ende des 19. Jahrhunderts Geschichtsvereine aus dem Boden, an ihre Existenz ist, wie man weiß, bis heute das Erscheinen zahlreicher orts- und landesgeschichtlicher Zeitschriften gekoppelt.

Seit den frühesten Anfängen tritt somit die Vestische Zeitschrift, die von 1947 bis 1962 als Vestisches Jahrbuch bezeichnet wurde, als die ‚Zeitschrift der Vereine für Orts- und Heimatkunde im Vest Recklinghausen’ auf. Der ursprünglich mediävistisch-frühneuzeitliche Schwerpunkt ihrer Beiträge ist längst einem breiten Spektrum landeskundlicher Fragestellungen gewichen, die seit geraumer Zeit auch zeitgeschichtliche Untersuchungen umfasst und nicht mehr vor brisanten Themen aus der NS-Zeit im nördlichen Ruhrgebiet zurückschreckt. Von Anfang an, d.h. seit November 1890, stand der Gesamtverein, der sich seit Ende des II. Weltkrieg ‚Arbeitsgemeinschaft vestischer Geschichts- und Heimatvereine’ nannte und seit 1988 Arbeitskreis vestischer Geschichts- und Heimatvereine heißt, in einem personellen Näheverhältnis zur öffentlichen Hand, der amtierende Landrat des Kreises Recklinghausen ist schon seit den Amtszeiten des Robert Freiherrn von Reitzenstein (1850 – 1893) der Erste Vorsitzende des Verbandes; die Geschäftsstelle des Arbeitskreises ist schon seit vielen Jahrzehnten und aus guten Gründen im Stadt- und Vestischen Archiv Recklinghausen angesiedelt.

Die redaktionelle Betreuung der Zeitschrift lag nach dem II. Weltrieg für nicht weniger als vier Jahrzehnte in den Händen von Dr. Werner Burghardt, der dieses Ehrenamt in idealer Weise mit seiner langjährigen Tätigkeit als Stadtarchivar von Recklinghausen zu verbinden wusste. Die Neubesetzung dieser städtischen Dienststelle im Jahre 2001 brachte auch den Wechsel im Geschäftsführer- und Herausgeberamt mit sich, wodurch sich nun der Unterzeichnende gemeinsam mit dem Arbeitskreis sowie mit allen Autoren, Freunden, Förderern und Rezipienten der Zeitschrift über die Fertigstellung des hundertsten Bandes freuen darf. Es bleibt zu hoffen, dass die Vestische Zeitschrift auch dann, wenn aus dem Ruhrgebiet eine wie auch immer geartete ‚Ruhrstadt’ geworden sein mag, ihre Gönner, Schreiber und Leser finden wird.

Dr. Matthias Kordes, Geschäftsführer