Vest Recklinghausen

Geschichte und Wortbedeutung des Vestes Recklinghausen

In der älteren westfälischen bzw. niederdeutschen Sprache taucht der Terminus Vest hauptsächlich im juristisch-administrativen Sprachgebrauch auf. Vest bedeutet hier soviel wie Gerichtsbezirk, Rechtsprechungsgebiet, Jurisdiktionssprengel. Neben dem längst untergegangen Vest Werl, Gummersbach, Lüdenscheid hat sich insbesondere im Raum Recklinghausen das Vest als geographischer Traditionsbegriff bis heute erhalten. Im Vest Recklinghausen, als Begriff und quellenmäßig greifbar spätestens mit dem zweiten Drittel des 14. Jahrhundert, übte der Erzbischof von Köln schon seit Ende des 12. Jahrhunderts sog. Blut- und Hochgerichtskompetenzen aus (hervorgegangen aus einem sog. Gogericht, einer untergegangenen altsächsischen Dinggenossenschaft, bestehend aus gerichtskonstitutiven Dorf- und Hofesverbänden. Die kirchlich-geistliche Hoheit über die Emscher-Lippe Region lag schon seit Karl dem Großen in Kölner Händen; bereits im 8. Jahrhundert war die Lippe die Demarkationslinie für kölnische Missionseinflüsse im Süden und solchen aus Utrecht nördlich davon, wobei die erfolgreiche Sachsenmission bekanntlich nicht aus Richtung Niederlande erfolgte, sondern kriegerischen Maßnahmen Karls des Großen vorbehalten blieben.

 

Die genuin politisch-weltliche Hoheit der Kölner Kirche über das Vest entfaltete sich jedoch erst im Zuge der Zerschlagung des sächsischen ‚Großherzogtums’ Heinrichs des Löwen im Jahre 1180 in Gestalt der Gelnhäuser Urkunde vom selben Jahr, wodurch südlich der Lippe die Kölner Oberhirten im Range eines Titularherzogs auftreten konnten und nördlich der Lippe auch die Bischöfe von Münster begannen, ein eigenes weltliches Territorium aufzubauen. Schon zwei Jahre zuvor (1178) war dem Kölner Erzbischof Philipp von Heinsberg durch päpstliches Privileg die Oberhoheit über die westfälischen Gogerichte innerhalb der östlichen Teile des Kölner Diözesangebietes zugesprochen worden. Ab 1200 spricht man von der Formierung eines weltlichen Territorialkomplexes der Kölner Erzbischöfe, die zunächst links des Rheins, dann im Vest Recklinghausen, schließlich im späten 14. Jahrhundert (1368) auch in der Grafschaft Arnsberg (sog. kurkölnisches Sauerland) direkt Fuß fassen konnten.

Innerer Landesausbau des werdenden Vestes vollzog sich schon im frühen 13. Jahrhundert durch zwei erzbischöfliche Städtegründungen (Recklinghausen 1236, Dorsten 1251) und der Bildung eines Netzes von Pfarr- und Rektoratskirchen. 1305 bezeichnet eine lateinische Urkunde das Vest als iudicium Riklenkhusen, zugleich ist dieses Dokument der älteste Überlieferungsort für das vestische Ministerialensiegel, das in spitzovaler Form den thronenden Hl. Petrus, den Patron der Kölner Kirche, zeigt. 1336 taucht in einer klevischen Klageschrift vermutlich zum ersten Mal der altniederdeutsche Begriff veste van Rekelinchusen auf, wobei die Etymologie des Wortes ‚Vest’ weiterhin ungeklärt ist.

Im Spätmittelalter ist das Vest Recklinghausen ähnlich einer Exklave ein vom linksrheinisch gelegenen Erzstift Köln getrenntes Territorium, vereinzelt tauchen dabei Bezeichnungen wie ‚Kölschland’ auf. Nachhaltige Zerrüttung der erzstiftischen Staatsfinanzen im langen und kriegerischen Pontifikat Erzbischofs Dietrich von Moers (1414-1463) verwandelte 1444 das Vest in ein einträgliches Pfandobjekt, woraus es erst 1576 wieder gelöst wurde. Ein Jahr später, 1577, im Zuge einer ersten gegenreformatorischen Konsolidierung des Erzstiftes Köln, erhielt das Vest eine neue land- und verfassungsrechtliche Grundlage in Gestalt des Salentinischen Rezesses, benannt nach Erzbischof Salentin von Isenburg (1567-1577).

Obwohl die Region um Recklinghausen heute unzweifelhaft zu Westfalen und zum westfälischen Teil des Ruhrgebietes gehört, war das Vest bis 1803 dem rheinischen Teil des Erzstiftes Köln zugeordnet. 1621, nach Untergang des Landdekanates Dortmund, wurde das Vest sogar in einem eigenen katholischen Seelsorgbezirk, dem commissariatus Vestanus, zusammengefasst, in welcher Gestalt das Vest 1821-1823 auch den Übergang an das neu konstituierte preußische Bistum Münster erlebte. Eingefasst wurde das Vest im Norden durch die Lippe, an dessen Nordufer bei Holsterhausen, Hervest, Lippramsdorf, Haltern, Hullern und Olfen von Alters her das Fürstbistum Münster begann. Die natürliche Grenze im Süden verkörpert die Emscher, woran sich die Grafschaft Mark und weiter westlich das Territorium der Fürstabtei Essen anschlossen. Die ausgeprägten Bruch- und Sumpflandschaften entlang beider benannter Flussläufe schotteten das Vest natur- und verkehrsräumlich sehr wirksam nach Süden und Norden ab. Anders als die Lippe wurde die Emscher vom späten 16. Jahrhundert an auch zu einer deutlichen Konfessionsgrenze gegenüber der eindeutig preußisch-protestantisch geprägten Grafschaft Mark.

Im Westen ist das Vest durch eine unregelmäßig verlaufende Grenze gegenüber dem rechtsrheinischen Teil des Herzogtums Kleve definiert, d.h. durch eine Linie westlich von Bottrop, Grafenwald und Kirchhellen bis wenige Kilometer westlich von Dorsten, wo zwischen Östrich und Gahlen an der Lippe, klevische Endstation eines alten Kohlenweges, die Grenze verlief (heute: Grenze zwischen den Städten Schermbeck (Kreis Wesel) und Dorsten (Kreis Recklinghausen)). Sterkrade gehörte bereits nicht mehr zum Vest, während am Westrand von Bottrop der „Köllnische Wald“, den heute die B 223 durchschneidet, noch heutzutage auf das alte Territorium hinweist. Im Osten, d.h. östlich von Waltrop, verlief die Grenze kurz vor Mengede, Brambauer und Lippholthausen, Orte, die traditionell zum Territorium der freien Reichsstadt Dortmund gehörten. Dieser erzbischöflich-kurkölnische Gerichts- und Verwaltungssprengel beschreibt also ebenjenes Vest Recklinghausen, das vom hohen Mittelalter bis in die napoleonische Zeit bestand. 1803, im Zuge der sog. Säkularisation und im Gefolge des sog. Reichsdeputationshauptschlusses, wurde es nach staats- und völkerrechtlichem Untergang Kurkölns in seinen alten Grenzen für rund sieben Jahre vom Regenten des wallonischen Fürstentums Arenberg als Entschädigung für dessen linksrheinische Gebietsverluste übernommen. Von 1811 bis 1814 gehörte das Vest als Kanton (Verwaltungsdistrikt nach französischem Vorbild) zum sog. Großherzogtum Berg und ging im Herbst 1815 schließlich in der preußischen Provinz Westfalen auf (hier: Regierungsbezirk Münster).

Im Kreis Recklinghausen (als klassische preußische Verwaltungseinheit erst 1816 gegründet) lebten zunächst die Grenzen des alten Vestes größtenteils fort, neu war hingegen der Hinzutritt der südmünsterländischen Herrlichkeit Lembeck. Im 19. Jahrhundert tritt der Begriff ‚Vest’ gegenüber der historisierenden Bezeichnung ‚Grafschaft Recklinghausen’ etwas zurück. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts erhielt das (politisch untergangene) Vest durch preußischen Chausseebau eine überregionale Verkehrsanbindung in Süd-Nord-Richtung, nämlich durch die heutige B 51 von Bochum nach Münster. Im 20./21. Jahrhundert, nach Ausscheiden von Buer und Bottrop und nach Eingliederung von Haltern und Castrop-Rauxel, leben die alten Grenzen vor allen Dingen im Osten weiter, wo um Waltrop herum noch immer die alte Grenze gegenüber der kreisfreien Großstadt Dortmund verläuft und wo zwischen Datteln-Ahsen (Kreis Recklinghausen) und Lippholthausen (Kreis Unna) der Flussverlauf der Lippe beharrlich die Grenzlinie darstellt. Gleiches gilt für den Süden, wo auf Höhe von Herten und Recklinghausen die Emscher die Kreis- (und Regierungsbezirks-) Grenze bildet. Die heutige Zugehörigkeit von Haltern, (Dorsten-) Lembeck und Castrop-Rauxel zum Kreis Recklinghausen deckt sich somit nicht mit dem Einzugsbereich des alten Vestes, da alle drei genannten Orte jenseits der uralten Scheidelinien von Lippe und Emscher liegen. Zahlreiche Vereine, Verbände, Firmen, Institutionen und Initiativen im Kreis Recklinghausen erfüllen jedoch den Traditionsbegriff Vest stets aufs Neue mit aktuellen Themen, Inhalten und Gegenwartsbezügen.

Karte von 1845

 

Eine topografische Karte der Kreise des Regierungsbezirkes Münster aus dem Jahre 1845 finden sie hier:

Historische Karte [PDF]